Der Leichenzug

Neuhaus im Erzgebirge

Der Leichenzug

In unserer kargen Heimat im Erzgebirge war früher vieles anders und vor allem anders als hier in Deutschland. Das Abschiednehmen von einem Verstorbenen war anders als heute in unserer neuen Heimat. Die meisten Menschen starben zu Hause und nur in sehr schweren Fällen kamen die alten Menschen ins Krankenhaus. Mindestens eine Person aus jeder Familie war bei der Beerdigung anwesend.

Das war auch in unserem Heimatdorf Neuhaus so, wo immer ein langer Trauerzug über den Hirschkopfberg zum Friedhof in der Nachbargemeinde Hirschenstand ging. Wenn also die Glocke am Glockenturm des „Dickenseffenhauses“ zu einer anderen Zeit als zur Mittagszeit läutete, wussten die Leute, dass jemand im Dorf gestorben war.

Die Nachricht verbreitete sich schnell, auch ohne Zeitung. Damals blieben die Toten bis zum Tag der Beerdigung im Haus aufgebahrt. Am Abend kamen die Ehefrauen der Nachbarn und Bekannten und beteten gemeinsam für den Verstorbenen. Nachts hielten Männer aus der Nachbarschaft die Totenwache, damit die Angehörigen ruhig schlafen konnten und keine Angst hatten, weil ein Toter im Haus war. Sie vertrieben sich die Zeit bis zum Morgen mit Kartenspielen und Geschichtenerzählen. Eine Flasche Schnaps auf dem Tisch war ein Muss.

Die Blaskapelle spielte gewöhnlich bei der Beerdigung, und es mussten sehr arme Leute sein, die ohne sie beerdigt wurden. Die Trauernden versammelten sich am Haus des Verstorbenen und trugen ihn unter den Klängen eines Chors in seinem Sarg aus dem Haus. Der Leichenwagen war nur ein Bauernwagen, auf dessen flacher Plattform ein Leichentuch lag und auf dem der Sarg von sauber gestriegelten Pferden gezogen wurde. Nun formierte sich der Trauerzug, voran die Musikanten, der Fuhrmann mit seinem Wagen, dann die Enkelkinder, die Kinder des Toten und dann die anderen Verwandten. Unter den Trauernden, die folgten, trugen viele unserer Väter noch ihre Zylinder, die zu Hause auf Hochglanz gebürstet worden waren, und die sie mit großem Stolz trugen.

Unterwegs spielten die Musiker in Abständen ihren Trauermarsch, und zwischendurch wurde wieder ein Vaterunser gebetet. So bewegte sich der Zug bergauf auf der Straße nach Hirschenstand in den Wald hinein, vorbei an der Zigeunerstaa, wo einst ein Zigeuner begraben worden sein soll, vorbei an dem Bild „beim Bild“, auf dem St. Hubertus mit dem Hirsch abgebildet war. Jetzt ging es schon wieder bergab auf dem steinigen Weg. Der Fuhrmann bremste, um langsamer zu werden, und bald konnten wir unten im Tal durch die Fichtenstämme das Dorf Hirschenstand sehen. Hier legten sie eine Pause ein. Die Männer gingen links in den Wald, die Frauen rechts, denn auch sie mussten dies tun.

Die Prozession formierte sich wieder und ging hinunter zum „Gasthaus der Sonne“. Von hier aus trugen sechs Träger, Nachbarn und Bekannte des Verstorbenen, den Sarg auf ihren Schultern den Rest des Weges. Der Pfarrer, der mit seinen Ministranten gekommen war, bildete nun die Spitze der Prozession und führte sie den Rest des Weges in die Kirche.

Menschen, die der Prozession begegneten, blieben stehen und salutierten ehrfürchtig. Nach dem Gottesdienst und der Ansprache am Grab spielten die Musiker meist noch ein Abschiedslied für den Verstorbenen. Auf dem Heimweg kehrten viele in den Gasthof zur Sonne ein, wo auch das Trauermahl serviert wurde, wenn es speziell geplant war.

Der Fuhrmann machte sich bald auf den Heimweg, und müde oder fußkranke Männer und Frauen durften hinten auf dem Wagen Platz nehmen.

Der Abschied von einem Verstorbenen war damals ein Ereignis und ein Gesprächsthema in den Klöppelstuben für mehrere Tage.

 

Ernst Ullmann